Die Preisträgerinnen des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises 2025 sind Eva Rottmann für „Fucking fucking schön“ (Jacoby & Stuart) und Raphaëlle Calande für „Les mille vies d‘Ismaël“ (Sarbacane).
Am 10. Oktober 2025 wurde der 13. Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis verliehen. Die Staatssekretärin für Bildung und Kultur Jessica Heide und der Generalkonsul der Republik Frankreich im Saarland Jérôme Spinoza haben die Preise – in diesem Jahr in der Kategorie „erzählendes Jugendbuch“ – in Saarbrücken überreicht.
Ebenfalls vergeben wurde, bereits zum zweiten Mal, der Preis der Jugendjury, mit dem junge Leserinnen und Leser aus Deutschland und Frankreich ihre persönliche Favorit*innen auszeichnen. Der Preis geht an Houssein Kahin & Kornelia Wald für „Die Tasche“ (Arena) sowie an Célia Garino für „Un bout du monde“ (Sarbacane).
Eva Rottmann
Fucking fucking schön
Jacoby & Stuart | ab 14 Jahre
David, Tini, Lou. Mats und Milad, Melek und Fabian, Yasin und Leyla: Es sind sowohl einzelne Figuren als auch Paarkonstellationen, die in puncto Sexualität erste Erfahrungen wagen. In zehn miteinander verwobenen Geschichten nähert sich Eva Rottmann der Gefühlswelt von Jugendlichen, die Momente größter Nähe erleben, in die sie unversehens hineinstolpern, vorbereitet scheitern, mit Situationen, die sie verfluchen und genießen und ja, am Ende ist in Wirklichkeit doch alles ganz anders. All diese Augenblicke sind noch nicht zu Ende – die Leser:innen führen sie gedanklich weiter. Zwischen allen Figuren gibt es Verbindungslinien, sie kennen sich aus der Schule; aus Nebenfiguren werden Hauptfiguren und umgekehrt. Nervosität und Peinlichkeit, Missverständnisse und Herzklopfen, Anspannung und befreiendes Lachen – Eva Rottmann fängt die emotionalen Achterbahnfahrten ihrer Protagonist:innen sprachlich gekonnt ein. Sie schreibt über etwas, über das man nicht gerne spricht und bei dem sich Kommunikation doch als unverzichtbar erweist, sie findet Worte für das, was überrascht und einen dazu bringt, mit einem Dauergrinsen durch die Stadt zu laufen.
Die Laudatio | Stefan Hauck
Vielleicht ist Ihnen Ende September in den Bahnhöfen auch so eine riesig große Werbung für Schokolade mit Cashew aufgefallen. Die kleinen Cashew-Kerne sind ja gebogen, und dann stand: „Die sind nicht krumm, die lächeln!“ Einfach ein Perspektivwechsel: Aus den krummen Kernen werden Kerne, die wie ein Smiley lächeln. Solche Perspektivwechsel haben wir in all unseren nominierten Romanen, die stilistisch wie inhaltlich eine sehr große Bandbreite zeigen. Die irgendwie auch typisch ist für die Fülle an Erfahrungen, die Jugendliche machen. Da haben wir
- einen Roman, in dem das Tabu Periode zugunsten eines unverkrampften Umgangs gebrochen wird,
- eine Geschichte, die zeigt, wie schnell auch für Vielfalt einstehende Menschen in ein festgefahrenes Schubladendenken rutschen können,
- ein Junge in einer Patchworkfamilie, der seine Gefühle und Beziehungen einzuordnen versucht,
- ein rasantes Verwirrspiel zu stereotypen Beziehungsmustern und Feuerwerken der Ironie,
- das Hineinstolpern in Paarkonstellationen, große Nähe und erste Male
- und eine Dreiecksbeziehung, in der Lüge und Wahrheit nicht mehr voneinander zu trennen sind.
Sechs wunderbare Titel. Kein leichtes Unterfangen also für eine Jury, die sich nach intensiver Beratung entschieden hat: Der Deutsch-französische Jugendliteraturpreis 2025 geht an Eva Rottmann und »Fucking fucking schön«.
Bereits auf dem Vorsatzpapier wartet auf die Leserinnen und Leser eine Landkarte mit Beziehungsgeflechten zwischen gut 20 Personen, deren Wege sich in einer Schule wie privat kreuzen. Das ist der Masterplan: Eva Rottmann beschreibt diese Routen in unterschiedlichen Darstellungsformen und Inhalten – exakt das Spektrum, wie Liebe und Sexualität von Jugendlichen in verschiedensten Facetten erfahren werden. Zehn eigenständige Geschichten sind es, in denen es um erste Male, erstes Kribbeln, erste Küsse, ersten Sex geht – oder eben auch nicht. Denn was es in den Texten wie im wirklichen Leben in rauhen Mengen gibt, das sind jede Menge Unsicherheiten, Nervosität und Performancedruck. In der Geschichte von Ari und Tom etwa ist Tom so „angespannt wie eine Alarmanlage in einem Hochsicherheitstrakt« und Ari wird jede Minute verkrampUer. Ich muss den Move machen«, denkt Tom, die Erwartungshaltung steigt ins Unermessliche, als hinter der dünnen Wohnungswand der kleine Nachbarsjunge in seinem Kinderenglisch lauthals und völlig sinnfrei »A laka mumi mumi« singt. So, dass der Druck entweichen kann: Zitat »Als sie anfängt zu lachen, fühlt es sich an, als würde jemand das Fenster aufmachen. Ich bin so erleichtert darüber, dass ich direkt angesteckt werde. Ich rolle mich neben Ari auf die Matratze, und wir lachen, es schüttelt uns, so sehr müssen wir lachen.« Es muss, wird beiden klar, nicht die Überholspur auf der Autobahn sein, und sie beschließen, lieber die Landstraße zu nehmen.
Wir erleben mehrere solcher Befreiungsschläge, wie bei Lou, der beim Trampen gerade noch einer bedrohlichen Situation entkommen kann, wie bei der toughen Melek, die Fabians Machismus der Lächerlichkeit und Ächtung preisgeben wird. Denn Fabian hat tatsächlich die Liebesqualitäten der Mädchen in einem Heft mit Punktesystem bewertet; »ein Player«, schreibt Melek. »Er nutzt Mädchen aus, um sich ohne jeden Respekt vor ihrer Privatsphäre damit zu profilieren. I mean, er hat sein komisches Heft nicht nur seinen besten Freunden gezeigt, sondern jedem Vollidioten, der daran interessiert war. Wer sowas macht, ist einfach ein Arsch.« Und Melek schreibt als Chefredakteurin der Schülerzeitung darüber, nutzt Sprache als mächtige Waffe: »Kein Mädchen mit ein bisschen Selbstachtung lässt sich noch auf Fabian ein, wenn sie meinen Artikel gelesen hat. Und diese Stadt ist klein.«
Man merkt Eva Rottmanns dramaturgische Erfahrung, es sind kleine Kammerspiele, die sie inszeniert und mit dem literarischen Prinzip des Reigens kombiniert: Figuren, die in einer Geschichte nur eine Nebenrolle spielen, werden in einer nächsten Geschichte zu Hauptfiguren, und umgekehrt; Mats und Milad kennen wir gar aus Rottmanns gleichnamigem Roman. Diese Querverbindungen und Perspektivwechsel – Ihr erinnert Euch noch an die lächelnden Cashew-Kerne – diese Perspektivwechsel führen dazu, dass wir die Jugendlichen von mehreren Seiten kennenlernen: Ein Mensch ist so viel mehr als der erste Eindruck, den wir von ihm haben. Selbst der scheinbar so selbstbewusste Fabian entpuppt sich in einer anderen Szene als hilfloser Junge, dem es langsam dämmert, dass er der Looser royal ist. Und mithilfe von zwei Erzählperspektiven innerhalb einer Story verdeutlicht Rottmann, wie wenig man sich traut, über übernommene Erwartungshaltungen miteinander zu reden – Sexualität bleibt nach wie vor eine tabuisierte Zone, selbst in einer vermeintlich aufgeklärten Welt, die über Techniken so viel weiß und so wenig über Gefühle und deren Komplexität.
Rottmanns Texte sind Gegenentwürfe zu jenen ersten Erfahrungen mit Sexualität, die Jugendliche heute durch die Bank weg über das Internet machen, pornografische Videoclips, von denen viele Teenager denken, sie spiegelten die Realität wider. Es sind ebenso Gegenentwürfe zu den eskapistischen spicy Romance-Titeln, ohne stereotype Rollenklischees. Bei Gesprächen über Lous Geschichte merkt man, dass die einen Lou zunächst als Jungen, die anderen als Mädchen abgespeichert haben, aber für die Story spielt das gar keine Rolle. Mit großer Empathie versetzt sich die Autorin in ihre Figuren, in Innenperspektiven; in vielen Schreibworkshops hat sie Erfahrungen von Jugendlichen gewonnen und Fragen abgeglichen – vielleicht sind die Geschichten deshalb so nah an der Wirklichkeit. Was aber nicht verschwiegen werden darf, ist Eva Rottmanns Kunst, Momente großer Nähe wundervoll poetisch zu beschreiben. Da stehen zwei unter einer Straßenlaterne und, Zitat: »Es fühlt sich so schön an, dass ich direkt wieder losheule. Yasin hält mich fest, mein Gesicht ist an seinem Hals, seine Haut ist weich und riecht wahnsinnig gut. Ich kann gar nicht sagen, wonach. Nicht nach Parfum, oder so. Einfach nach Yasin, Yasinhaut und Yasinkörper. Nach etwas, für das ich definitiv auch mein Taschengeld ausgeben würde, wenn man es irgendwo kaufen könnte.« Und die Autorin schaft immer wieder Wendungen, die neue Möglichkeiten eröffnen, Chancen. Ihre Texte sind allesamt Ausschnitte – keine Geschichte ist fertig, genau wie im Leben. Sie hallt im Kopf der Leserin nach, der Ausgang ist offen. »Vielleicht morgen«, flüstert Yasin. »Ja«, sage ich. »Vielleicht.«
Und stets hält Eva Rottmann Momente bereit, wo die Leser überlegen müssen: Welche Position teile ich? Wie sehe ich das? Melek bringt es so auf den Punkt, Zitat: »Dude, die meisten Leute haben Probleme in der Kindheit. Ob man ein Arschloch wird oder nicht, ist eine Frage der Entscheidung. So einfach ist das.«
Herzlichen Glückwunsch, Eva Rottmann!
Die Jury 2025
Nicola BARDOLA | München
Britta BENERT | Strasbourg
Maren BONACKER | Wetzlar
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
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Raphaëlle Calande
Les mille vies d‘Ismaël
Sarbacane | ab 14 Jahre
Mit 15 fliegt Ismaël von der Schule – tiefer kann man kaum fallen. Wie soll man noch an sich glauben, wenn alles aus den Fugen gerät – in der Schule genauso wie zu Hause? Eine letzte Chance bleibt ihm: ein Praktikum in der Küche eines Restaurants in Lyon. Den ganzen Tag Gemüse schälen, die Dreadlocks unter einer Haube versteckt… klingt alles andere als verlockend. Aber er hat keine Wahl.
Mit Ismaël tauchen wir ein in eine wenig bekannte Welt, deren tausend Facetten uns in einen wahren Wirbelsturm reißen. Zwischen Druck und Duft liegt ein Weg voller Lernen, voller Erfahrungen. Themen wie Stress, Rassismus, Mobbing, Übergewicht, Radikalisierung, Gewalt, Solidarität, Schuldgefühle, Freundschaft und noch mehr – die Zutaten sind zahlreich und von Raphaëlle Calande meisterhaft dosiert, die sich dabei als ebenso einfühlsame Psychologin wie passionierte Feinschmeckerin erweist. Die Sprache trifft genau den Ton – direkt, lebendig, berührend. Die Gerichte machen Appetit, die Figuren gehen unter die Haut. Und weil Ismaël in der Küche auf ein Team trifft, das mit Herzblut dabei ist, beginnt er langsam, sich selbst und seinen Platz in der Welt zu finden – jenseits aller kulturellen und familiären Brüche.
Ein Buch voller Gefühl, Humor und Hoffnung – und als süßes Finale ein „Céleste“, ein Kuchen, der mehr sagt als viele Worte. Ein Leseerlebnis zum Genießen.
Panégyrique | Isabelle Enderlein
Il souffle, dans les romans de la short-list française 2025, un même vent de résilience, cette force tranquille qui naît parfois d’un geste, d’une rencontre, d’un mot prononcé au bon moment, et qui instille le désir de repartir de l’avant, même quand tout semble perdu.
Un roman, en particulier, a su évoquer avec une rare justesse l’art de la transformation intime. On y entre comme dans une odeur de beurre fondu et d’épices, on le traverse au rythme des couteaux qui claquent, et on en ressort rassasié d’émotions et de saveurs, nourri de la ferme conviction qu’on porte tous en nous un feu intérieur capable de renverser des montagnes.
Le jury franco-allemand du Prix de littérature jeunesse 2025 décerne cette année sa distinction à Les mille vies d’Ismaël, de Raphaëlle Calande, paru aux éditions Sarbacane.
D’origine polynésienne, Ismaël, grand adolescent mal dans sa peau mais vibrant d’une humanité à fleur de peau, est à bout de souffle. Il a cessé d’y croire : à l’école, à la famille, à l’avenir.
Envoyé presque par hasard en stage au Baron Perché, un bouchon lyonnais traditionnel, il pénètre un univers inconnu – celui des coups de feu, des services qui s’enchaînent et des gestes précis qui sauvent du chaos. Surtout, il y rencontre les « brigades » du restaurant, ces équipes de cuisiniers regroupés à différents postes. Il y a là Céleste, l’apprentie qui incarne la force solaire des débuts; Katal, le graffeur rebelle, libre et fraternel qui étend son terrain d’apprentissage aux toits de la ville ; et bien sûr le chef, figure rugueuse mais juste, maître d’une école de cuisine qui, en réalité est celle de la vie.
À leurs côtés, et de bien d’autres encore, Ismaël découvre la rigueur, l’amitié, la solidarité. Car cuisiner, ce n’est pas simplement suivre une recette ; c’est apprivoiser la matière brute, donner forme à la confusion, partager le fruit d’un effort commun. Et la cuisine, dans ce roman, devient une métaphore de la reconstruction de soi : elle est cet espace où il faut accepter d’écouter l’autre pour se rencontrer, de se brûler un peu pour oser créer et de doser ses émotions comme les ingrédients d’un gâteau d’amour.
La renaissance d’Ismaël nous est contée avec une énergie gourmande et tourbillonnante, traversée d’humour et de justesse, assaisonnée des mille ingrédients d’une vie qui bouillonne. Car sous la surface d’un roman d’apprentissage « feel good » affleurent des thèmes profonds : la culpabilité, le surpoids, le racisme, l’autisme, la différence, le lien familial, les troubles du corps et du coeur. Par ailleurs, le roman célèbre aussi la dignité du travail manuel, la beauté du geste répété, la fierté d’un métier. Il rappelle, dans un monde souvent trop abstrait, que la matière – les légumes qu’on hume, la pâte qu’on malaxe, la chaleur d’un four – peut devenir un langage. Et que l’apprentissage, qu’il soit culinaire ou existentiel, repose sur une même recette : du courage, un peu de sel, et la confiance qu’un jour, tout cela prendra sens.
La narration, ponctuée de SMS, de journaux de stage, de recettes et de fragments illustrés, reflète la vivacité du monde adolescent. Chaque émotion a le goût du vrai : il y a du sucre dans les voix, « de la vanille et des notes assez soutenues de tonka » dans les silences. Et quand Ismaël, à la fin, semble avoir trouvé sa place – peut-être pas une place rêvée, mais une place possible, il peut enfin révéler son amour à Céleste en gâteau.
Les mille vies d’Ismaël est un roman généreux, savoureux, profondément humain. Un récit qui rappelle que chaque chute porte en elle la promesse d’un nouvel élan. Et qui, enfin, redonne foi en la capacité des jeunes à transformer le réel, et des mots à transformer la vie.
Die Jury 2025
Nicola BARDOLA | München
Britta BENERT | Strasbourg
Maren BONACKER | Wetzlar
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
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