Die Preisträger.innen des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises 2021 sind Grit Poppe aus Deutschland und Delphine Pessin aus Frankreich.
Am 15. Oktober 2021 wurde zum neunten Mal der Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis vergeben. Der Preis wurde durch den Ministerpräsidenten des Saarlandes, Herrn Tobias Hans, und der Vertreterin der Französischen Botschafterin in Deutschland, Frau Karin Fouledeau, in der diesjährigen Kategorie „Jugendbuch“ in Saarbrücken verliehen.
Die Staatskanzlei hat die Veranstaltung live gestreamt. Hier können Sie die Aufzeichnung sehen.
Grit Poppe
Verraten
Dressler | ab 14 Jahre
Eindrückliche Einblicke in zwei jugendliche Lebensläufe in der DDR 1986: die des 15-jährigen Sebastian und der Ausreißerin Katja. Grit Poppe hat intensiv über Heimerziehung und das Anwerben jugendlicher Stasi-Spitzel recherchiert; sie führt mit einfühlsamen inneren Monologen die Manipulierbarkeit von Menschen vor, zeigt Gewissenskonflikte und wie man sowohl mit Drohkulissen als auch mit schmeichelndem Vertrauen Jugendliche instrumentalisieren kann. Poppes sehr genauen, aufwühlenden Beschreibungen offenbaren, wie die Gesellschaft in totalitären Staaten funktioniert – wo muss ich mich unterwerfen, wo mache ich Kompromisse? Das Verlieren der menschlichen Würde ist, so wird deutlich, perfide geplant und systemimmanent.
Die Laudatio | Alexandra Rak
Wenn bei den im September stattgefundenen Bundestagswahlen die unter 18jährigen hätten wählen dürfen, wären die Grünen mit 20,6 %, dicht gefolgt von SPD und FDP, als stärkste Fraktion hervorgegangen. Das ergab die Juniorwahl 2021 unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble.
Welche Partei oder Bewegung hätten wohl die Protagonist:innen aus den nominierten Titeln gewählt? Hätten sie überhaupt die Chance gehabt, zu wählen? Welche Themen wären für sie wichtig gewesen?
Die Autor:innen der nominierten Titel erlauben ihren Leser:innen einen Blick in die Zukunft, in die Vergangenheit, sie machen den Zauber von Zahlen fassbar, widmen sich Randgruppen, schicken ihre Held:innen in eine Revolte gegen Ungerechtigkeiten und zeigen, wie Traumata über Generationen weitergereicht werden. Ein Buch zeigt im besonderen Maße das Leben der Anderen. Mit dem Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis 2021 in der Kategorie Jugendbuch wird „Verraten“ von Grit Poppe ausgezeichnet.
Grit Poppe gelingt ein eindrücklicher Einblick in die Lebensläufe zweier Jugendlicher in der DDR im Jahr 1986, die aus unterschiedlichen Gründen die lange Hand des Staates zu spüren bekommen. Da ist auf der einen Seite Katja. Sie kommt aus einer zerrütteten Familie mit überforderter Mutter und übergriffigem Lebensgefährten. Der Staat sieht in ihr jedoch nur die renitente Herumtreiberin und Schulschwänzerin, ein subversives Element. Auf der anderen Seite ist da der 16jährige Sebastian. Seine Mutter ist gestorben und seine Großmutter angeblich nicht mehr in der Lage, sich um ihn zu kümmern. Daher soll er, wie sie, in ein Heim.
Sebastian weiß nicht, was ihn erwartet. Katja schon. Er ist bloß für ein paar Tage in diesem Durchgangsheim, weil sein verschollener Vater auftaucht und ihn herausholt. Trotzdem haben ihn die gefängnisähnlichen Zustände, die Willkür, das Ausgeliefertsein schwer traumatisiert. Katja ist zum wiederholten Male dort, sie und Sebastian begegnen sich nur kurz. Ihr scheint der Gewahrsam weniger auszumachen. Denn sie hat Mechanismen entwickelt, das Geschehene von sich fernzuhalten, ihre Persönlichkeit aufzuspalten, sich „wegzubeamen“. Als der Vater Sebastian abholt, wird Katja quasi auf dem Silbertablett eine Fluchtchance serviert, und Sebastian unfreiwillig zum Fluchthelfer. Sie auf dem Dachboden neben ihrer Wohnung zu verstecken und mit Lebensmitteln zu versorgen, machen er und später auch sein Vater dann aber ganz bewusst.
Gegen Katjas unbändigen Drang nach Freiheit stellt die Autorin Sebastians Angepasstheit. Er fragt sich anfänglich noch, was denn so schwierig daran ist, im Einklang mit dem herrschenden System zu leben. Da weiß er noch nicht, dass sein Vater als Politischer in Haft saß und seitdem unter Beobachtung steht. Da weiß er noch nicht, dass er von der Stasi als Informant, als Spitzel, angeworben werden wird. Denn Sebastian ist das perfekte Opfer. Er ist durch die veränderten Lebensumstände verunsichert und sehnt sich nach Anerkennung, die er von seinem Vater nicht bekommt. Diese Rolle übernimmt sein Führungsoffizier der Stasi. Der arbeitet mit Zuckerbrot und Peitsche. Hier ein Lob, da eine Zigarette, eine selten saftige Orange, das Versprechen auf bessere Ausbildungschancen. Auf der anderen Seite aber die ständige Drohung, zurück ins Heim zu müssen, und schließlich: Bargeld, der von Sebastian sogenannte „Judaslohn“. Aus Sorge um Katjas Entdeckung wird er erst zum Verräter an Mitschüler:innen, einem Lehrer und sogar an seinem Vater. Aus Sorge um Katjas Verbleib befreit er sich schlussendlich aus den Fängen der Stasi. Er bricht das Schweigen, gesteht seinem Vater und Katja, was er getan hat, und enttarnt sich selbst. Ausgestanden ist damit leider noch längst nicht alles.
Poppe schaut beim Erzählen genau hin, kenntnisreich entlarvt sie die Mechanismen eines totalitären Staates, verbindet Zeitgeschichtliches mit Fiktivem, zeigt die inneren Konflikte, die durch die äußeren entstehen. Grit Poppes Roman ist ein großartig geschriebenes Aufklärungsdrama mit informativem Nachwort, historischen Dokumenten eines jugendlichen Inoffiziellen Mitarbeiters und einem Glossar. Außerdem ist ihr Roman zeitlos aktuell. Denn dass Erwachsene Kinder- und Jugendliche für ihre politischen Zwecke missbrauchen, ist mit dem Untergang der DDR längst nicht verschwunden. Erinnert sei an dieser Stelle an Kindersoldaten in Afrika oder die jungen Kämpfer des IS. In „Verraten“ schnürt die Autorin die Einschränkungen durch den Staat, die bis in den letzten Winkel des Privatlebens eindringen, immer enger, immer erdrückender wird das Gefühl, ständig beobachtet oder abgehört zu werden, immer verständlicher Katjas Wunsch nach Freiheit, der sich in unserer Demokratie oft so banal anhört und die doch unbedingt verteidigt werden will. In diesem Roman wird deutlich sichtbar, dass sich das Gesamtgesellschaftliche immer auch im Privaten spiegelt.
Die DDR und die Stasi gibt es nicht mehr. Verführungen, die Jugendliche durch psychischen Druck in Konflikte und Zwangslagen bringen, immer noch, hier und überall. Nicht zuletzt deshalb ist „Verraten“ von Grit Poppe ein so wichtiges Buch. Damit wir weiterhin die Wahlfreiheit haben. Im Privaten. Und im Politischen.
Die Jury 2021
Nicola BARDOLA | München
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Isabelle ENDERLEIN | Berlin
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Alfred GULDEN | Saarlouis, München
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
Mehr Informationen zur Jury
Delphine Pessin
Deux fleurs en hiver
Romans Didier Jeunesse | ab 12 Jahre
Intergenerationeller Austausch als Heilmittel vieler Übel…
Capucine und Violette. Zwei Blumennamen. Zwei entwurzelte Leben unter einem Dach: Ein Pflegeheim, in dem erstere Praktikantin und die zweite neue Bewohnerin ist. Dort trifft die jüngere, die ihre Verletzungen unter bunten Perücken verbirgt, auf die ältere, die nicht mehr lächelt. Nun ist gerade Capucine eine Spezialistin des Lächelns, mal Bumerang, mal Schutzschild… Das gemeinsame Unwohlsein wird bald die „zwei Herzen im Winterschlafmodus“ zusammenbringen und ihnen helfen, sich gegenseitig zu unterstützen, einander zu vertrauen, Geheimnisse zu teilen, die sehr schwer zu tragen sind, und sie ermutigen, sich zu engagieren und zu handeln. Als es auf den Karneval zugeht, kommen die Erinnerungen an den Mai 1968 wieder hoch, und die ganze Einrichtung wird von dieser generationsübergreifenden Komplizenschaft und von diesem (wieder-)gewonnenen Vertrauen angesteckt.
Die zweistimmige Erzählung trifft den richtigen Ton zwischen Humor und Zärtlichkeit, zwischen Stil- und Perspektivwechsel: Ein Dialog zwischen Jung und Alt, ein doppelter Blick – realitätsnah und differenziert – auf die unbekannten und wenig anerkannten Pflegeberufe. Ohne die Wirklichkeit vor Ort zu beschönigen, will dieser Roman dazu ermutigen, den eigenen Platz zu finden und der eigenen Berufung zu folgen. Bis zum Ende. Über Unterschiede und Vorurteile hinaus. Ein sehr bewegendes Buch, das gut tut.
Panégyrique | Mathilde Lévêque
« La critique est aisée, mais l’art est difficile » : nous le savons bien, vous le savez aussi, auteurs et autrices, lecteurs et lectrices, et, pourtant, que la critique est difficile quand l’art est si talentueux… N’allez pas croire que la position du jury est confortable et bien tranquille : chaque année, nous voici devant la responsabilité de choisir douze finalistes dont deux, pour finir, seront récompensés par le prix franco-allemand pour la littérature de jeunesse. Et cette année encore, chaque roman de la liste finale méritait de recevoir ce prix. Cette année, les six romans français sélectionnés nous ont tous émus et bouleversés, pour des raisons toujours différentes. Nous avons frémi, ri, pleuré et nous avons chanté, nous avons interrogé nos habitudes, nos certitudes et nos souvenirs, nous avons vécu avec ces personnages drôles, touchants, poignants même, nous avons eu, cette année encore, de grands bonheurs de lecture. Merci aux auteurs et aux autrices de nous les avoir offerts.
Parmi ces six romans français, il en est un, puisque telle est la règle du prix, qui a fait vibrer en nous toutes ces cordes en même temps, un roman liant avec délicatesse l’intime et le collectif, le passé et le présent, le silence et la parole, et c’est pourquoi nous avons choisi de récompenser Deux fleurs en hiver de Delphine Pessin, paru chez Didier Jeunesse.
Capucine est élève en terminale ASSP, Accompagnement, Soins et Services à la Personne. Elle arrive à la maison de retraite du Bel-Air pour un stage de dix semaines, encore bien plus décisif pour son avenir que ce qu’elle imagine au départ. Violette, ancienne institutrice, femme jadis très active, vient également d’arriver dans l’établissement, à contrecœur, comme trahie par un corps qui devient dépendant d’autrui. Ces deux femmes aux prénoms de fleurs, dont les cœurs sont comme pris dans la froidure de l’hiver, du deuil, du silence et des regrets, se rencontrent, se trouvent l’une l’autre, l’une à l’aube de sa vie d’adulte, l’autre au terme d’une vie bien remplie. Leurs deux voix se font écho et se font face, sans que le roman ne se réduise à un simple duo et sans pour autant oublier tout ce qui les entoure l’une et l’autre : les amis, la famille, le passé et bien sûr le chat Crampon, qui porte si bien son nom, aussi miteux qu’affectueux. Ce chat, personnage à part entière dont les apparitions et les disparitions rythment le récit, incarne ce qui serait peut-être l’une des vertus cardinales du roman : la fidélité. Fidélité envers ce que l’on a été, ce que l’on est et ce que l’on sera, envers celles et ceux qui nous aiment, envers des convictions et des engagements, avec aussi son revers, l’infidélité, lourde de secrets inavoués et de ces silences qui forment comme des cailloux dans la gorge et dans le ventre. Le roman de Delphine Pessin pose la question de la loyauté, si essentielle dans la construction de soi.
L’écriture du roman est à l’image de ces deux personnages centraux, mélange de force et de fragilité. C’est une écriture sensible, tissée de métaphores non seulement florales mais aussi minérales et atmosphériques, une écriture de la sensation, attentive aux bruits, aux odeurs, aux touchers : une peau parcheminée, une cicatrice, la fourrure apaisante d’un chat. Delphine Pessin donne à voir les gestes du quotidien auprès des personnes âgées, le lever, la toilette, les repas. Elle parle également de la situation difficile des personnels des Ehpad, les rythmes impossibles à tenir, l’épuisement, l’attention qu’on aimerait porter davantage aux personnes âgées et qui n’est plus possible, faute de temps et par manque de personnel. Aux lecteurs adolescents, le roman dit la difficulté de devenir adulte et de définir qui l’on est parmi une multiplicité de choix ou de masques, comme toutes ces perruques que Capucine choisit au gré de ses humeurs et de ses défis, mais aussi pour cacher ses blessures. Ce roman offre à la jeunesse l’occasion de porter un regard sur la vieillesse, sans complaisance et sans crainte, avec réalisme et sensibilité. L’équilibre entre gravité et fragilité est tout entier dans la poésie qui sous-tend le roman : de la toute première page jusqu’à la dernière ligne, Delphine Pessin émaille son texte d’haïkus, ce genre poétique japonais qui tente de saisir l’instant, « ausssi fugace soit-il ». Fragilité de l’instant, force des mots et des émotions, Deux fleurs en hiver pose la question de la place que l’on occupe, pour soi et pour les autres, de ce que signifie être à sa place, autrefois et maintenant.
Die Jury 2021
Nicola BARDOLA | München
Gilles BUSCOT | Strasbourg
Géraldine ELSCHNER | Heidelberg
Isabelle ENDERLEIN | Berlin
Germaine GOETZINGER | Luxemburg
Alfred GULDEN | Saarlouis, München
Dr. Stefan HAUCK | Frankfurt
Charlotte LARAT | Strasbourg
Mathilde LÉVÊQUE | Paris
Alexandra RAK | Frankfurt
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