Interview mit Verena Keßler

Die Gespenster von Demmin

über ihr Buch Die Gespenster von Demmin

 

Wir stellen Ihnen Verena Keßler vor, eine der nominierten Autorinnen der Shortlist 2021, die wir über ihr Buch „Die Gespenster von Demmin“ befragt haben. Das Interview wurde von Marie Hornek und Lylou Moulin auf Deutsch geführt. Die Transkription finden Sie weiter unten.

 

Interviewerin Marie HornekMarie Hornek wuchs zweisprachig in Tuttlingen auf und studiert nun die Geschichte, Kultur und Literatur Deutschlands und Frankreichs an der Universität des Saarlandes sowie der Université de Lorraine. Mit fünf Kommilitoninnen hat sie das deutsch-französische Kinderbuch „Wie das Chamäleon sein Talent gefunden hat” geschrieben.

 

Interviewerin Lylou MoulinLylou Moulin ist eine französische Studentin mit einer Leidenschaft für das Lesen. Sie freut sich stets, neue Wege einzuschlagen und spannende Entdeckungen zu machen. Mit fünf Kommilitoninnen hat sie das deutsch-französische Kinderbuch „Wie das Chamäleon sein Talent gefunden hat“ geschrieben.

 

Die Transkription des Interviews

 

Lylou (L): Hallo Verena Keßler. Danke, dass Sie da sind! Es ist wirklich ein Vergnügen, Sie auf Video zu treffen und heute werden wir über Ihr Buch „Die Gespenster von Demmin“ sprechen. Ihr Roman ist also einer der zwölf nominierten Romane für den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis und die Geschichte Ihres Romans spielt in der Stadt Demmin, eine Stadt, in welcher nach dem Zweiten Weltkrieg der größte kollektive Selbstmord der Geschichte stattfindet. Das Buch erzählt die Geschichte zwei verschiedener Menschen. Also zuerst ein 15-jähriges Mädchen, Larry, die ihr Leben ein bisschen langweilig findet und unbedingt Kriegsreporterin werden möchte. Und eine alte Frau, Frau Dohlberg, ihre alte Nachbarin, die bald in ein Altersheim gehen wird. Und diese ältere Frau erinnert sich an das Ende des Krieges in Demmin. Und wenn ich mich nicht irre, ist dieses Buch ihr erster Roman und in diesen haben Sie sich also entschieden, über den kollektiven Selbstmord in Demmin zu sprechen. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?

Verena Keßler (VK): Ich glaube einfach, weil mich das sofort sehr interessiert hat, als ich davon gehört habe. Das war vor, ich glaube, jetzt so 7 Jahren. Da habe ich mich gewundert, dass ich so spät erst davon mitbekommen habe, dass das z.B. in der Schule nie vorgekommen ist, dass es sowas gab. Und dann hat mich erst mal interessiert, warum das da überhaupt passiert ist. Wie kam es gerade in Demmin zu so einem Massenselbstmord? Und das kann man eigentlich ganz gut nachvollziehen, weil es so war, dass die Stadt in Richtung Westen von Flüssen umschlossen ist. Die Wehrmacht ist abgezogen und hat die Brücken hinter sich gesprengt und die Bewohner waren dann sozusagen eingeschlossen da und konnten nicht mehr fliehen. Jedenfalls nicht so schnell. Und dann ist da so eine Massenpanik ausgebrochen. Es war irgendwie auch wie ein Dominoeffekt und die Leute haben gesehen, meine Nachbarn bringen sich um. Irgendwie scheint es kein Grund mehr zum Leben zu geben. Es waren ja auch viele, die einfach immer noch dem NS-System anhängig waren. So habe ich mich erst mal mit diesen Punkten beschäftigt. Warum war das so? Und dann habe ich aber gemerkt: Eigentlich will ich gar nicht darüber schreiben, wie das damals war, sondern darüber, wie es jetzt da heute ist, in dieser Stadt zu leben. Als ich das gemerkt habe, hatte ich dann auch irgendwann diese Figur und habe dann angefangen zu schreiben. Letztendlich hat das Buch ja dann noch ganz viele andere Themen bekommen bzw. beleuchtet das Thema Tod von anderen Seiten deswegen... Es hat sich so entwickelt, da kann ich immer gar nicht so sagen: „das war die erste Idee und deswegen wollte ich es machen“. Nun ja, es ist auch so eine Entwicklung gewesen.

Marie (M): Ja, ich kann mir vorstellen, dass es nicht nur schwerfällt, über die Geschehnisse von 1945 zu sprechen, sondern auch über sie zu schreiben. Es ist ein ernstes, ein schmerzliches Thema. Warum haben Sie als Hauptfigur für ihren Roman ein 15-jähriges Mädchen gewählt? Warum ein Jugendbuch und kein Roman für Erwachsene?

VK: Ja, also das war auch so ein bisschen ausprobieren. Irgendwann habe ich mir gedacht, ich schreibe einfach mal so ein Text darüber. Und dann hatte ich diese Figur und habe gemerkt: mit der kann man das irgendwie leichter erzielen, weil sie eben noch jung ist und auch mal naiv auf Dinge blicken kann und nicht alles immer so abwägen muss, sondern einfach mal sagen kann: „wenn ich hier vor einem Massengrab stehe, frage ich mich, ob die Leute eigentlich mit den Füßen im Gesicht des andern liegen“ und so. Also da hatte ich das Gefühl, dass das irgendwie leichter ist. Und dann war es eben auch diese Sache, dass ich wissen wollte, wie geht man eigentlich damit um, wenn man in dieser Stadt sein Leben beginnt. Also sie ist ja in diesem Alter, wo man gerade überlegt „was will ich eigentlich mal machen, wo will ich hin?“ Und diese Stadt ist aber eigentlich sehr erdrückend und in gewissem Sinne auch so ein bisschen in die Vergangenheit gewandt. Und das hat mich interessiert daran.

M: Warum könnte die Geschichte im Roman von Larry und ihrer Nachbarin auch für französische Jugendliche spannend sein?

VK: Der Zweite Weltkrieg war natürlich eine europäische Sache. Insofern ist das natürlich insgesamt interessant. Ich habe aber auch das Gefühl, das spielt zwar in Demmin und einige Sachen sind sehr spezifisch für diese Stadt, aber andere Sachen sind auch total allgemeingültig für das Aufwachsen. Also Probleme mit der Mutter haben, den neuen Freund der Mutter nicht annehmen, Probleme mit den Freunden haben, die erste Liebe. Sowas findet ja international statt.

L: Zwei verschiedene Geschichten, Perspektiven laufen in dem Buch. Also auf der einen Seite Larry und auf der anderen Frau Dohlberg. Sie sind immer parallel. Sie sind unterschiedlich, haben aber Gemeinsamkeiten und sind indirekt miteinander verbunden. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, aus zwei Perspektiven zu schreiben und wie haben Sie es geschafft, diese beiden Geschichten so gut zu verbinden, obwohl sie unterschiedlich sind?

VK: Ich hatte Larry ganz am Anfang und habe erstmal so aus ihrer Perspektive erzählt. Und dann habe ich gemerkt, dass es so ein paar Dinge gibt, die die Geschichte betreffen, die ich nicht so gut aus ihrer Perspektive erzählen kann. Also sie war eben nicht dabei. Sie ist lange nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und kann deswegen keine eigenen Erinnerungen haben. Und ich wollte schon eine Figur haben, die diese Erinnerungen hat. Und dann war das auch wieder ein Herumprobieren. Also lange Zeit hatte ich so einzelne kleine Passagen, die von ganz vielen älteren Leuten erzählt werden. Und dann war es auch mal Larrys Urgroßmutter, die das erzählt und das hat alles irgendwie immer nicht so richtig gepasst für mich. Relativ zum Schluss erst habe ich dann das mit der Nachbarin so gemacht und habe auch diese Teile eigentlich erst geschrieben, als ein ganz großer Teil von Larrys Geschichte schon stand. Und dadurch konnte ich das dann so ganz gut dazwischen setzen. Also mal gucken, wo könnte sie eigentlich jetzt nochmal kommen? Und dann konnte ich natürlich auch sehr genau schauen, wie kann ich das jetzt auch irgendwie verbinden? Was könnte es für Parallelen geben, dass man zwischen den beiden noch einmal eine Verbindung knüpfen kann?

M: Das können Sie vielleicht nochmal erklären, wie es dazu kam, dass die Menschen es bevorzugten, sich umzubringen, als dass sie der Roten Armee begegneten. Also wie groß muss ihre Verzweiflung und Angst gewesen sein, um sich selbst zu töten und auch oft ihre eigenen Kinder?

VK: Also das war glaube ich eine Mischung aus verschiedenen Gründen. Erst einmal gab es ganz viel Propaganda. Es wurde erzählt, dass die Russen den Kindern die Zungen abschneiden. Also irgendwie solche Horrorgeschichten wurden vorher schon sehr geschürt, sodass da eine sehr große Angst bestand. Und es gab ja auch schon Heimkehrer, also deutsche Soldaten, die auch erzählt haben, was die Wehrmacht in der Sowjetunion angerichtet hat, was die für Gräueltaten da verrichtet haben. Und da war die Angst vor Rache natürlich auch einfach sehr groß. Also das war das eine. Und es gab auch schon Flüchtlingstrecks aus dem Osten, die eben durch die Minen zogen und die auch sozusagen diese Begegnung schon hatten und auch erzählt haben. Man muss sagen, es stimmte natürlich nicht, diese ganze Propaganda. Aber es sind auch in Demmin dann Vergewaltigungen in großer Zahl passiert. Und die Stadt hat gebrannt. Man ist sich nicht sicher, warum oder wer sie angezündet hat. Ob das jetzt russische Soldaten waren oder ob das vielleicht deutsche selber waren, das ist nicht geklärt. Aber auf jeden Fall brannte der Stadtkern. Das kam glaube ich eben auch nochmal dazu, das zu so einer Untergangsstimmung führte. Und Hitler hatte sich schon umgebracht und es war glaube ich insgesamt diese Untergangsstimmung. Also es war klar, der Krieg ist verloren und es war auch klar, wer dem NS-Regime angehangen hat, wird jetzt große Schwierigkeiten bekommen und die Zukunft ist sehr ungewiss. Ich glaube, dadurch haben sich dann erste für den Tod entschieden. Dann haben andere gesehen „Okay, meine Schwester / Tante / Nachbarin… sieht keinen Grund mehr darin zu leben. Dann gehe ich der jetzt irgendwie nach“. Und es haben sich ja auch viele in den Flüssen ertränkt, was wohl auch daran lag, dass das eben eigentlich der Fluchtweg war. Man kam dann da an, hat gesehen, die Brücken sind gesprengt, ich komme hier nicht weiter. Überall sind Soldaten, erste Leute sind schon im Fluss. Ich glaube, das war dann, so eine Gemengelage, die dazu geführt hat, dass sich einfach viele sich dafür entschieden haben.

M: Trotzdem schwierig, sich das heute vorzustellen.

VK: Ja klar. Naja, so geht es ja Larry auch. Sie interessiert sich so sehr für den Krieg, aber eigentlich hat sie keine Vorstellung davon, wie es wahrscheinlich allen geht, die das noch nicht erlebt haben.

M: Vielleicht zum Schluss verraten Sie uns und den Zuhörern, warum ein Schwan auf der Titelseite ihres Buches abgebildet ist?

VK: Ja, es gibt ein Kapitel, in dem Larry versucht, einen Schwan zu retten, der ist im Eis eingefroren. Und sie will ja Kriegsreporterin werden und härtet sich immer dafür ab. Und dann sieht sie das so ein bisschen als noch eine zusätzliche Herausforderung, dass sie jetzt aufs Eis geht und diesen Schwan da raus zieht. Und ja, dabei gerät sie dann selbst in Not. Und genau der spielt später dann noch eine andere Rolle, aber da will ich dann nicht zu viel verraten.

M: Ja, vielen Dank für das Interview, für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Möchten Sie vielleicht zum Schluss noch der deutschen und französischen Jugend etwas Besonderes mitteilen?

VK: (lacht) Ich freue mich einfach, wenn viele Lust haben, das Buch zu lesen!

 


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