Interview mit Delphine Pessin

Deux fleurs en hiver

über ihr Buch Deux fleurs en hiver

 

Wir stellen Ihnen Delphine Pessin vor, eine der nominierten Autorinnen der Shortlist 2021, die wir über ihr Buch „Deux fleurs en hiver“ befragt haben. Das Interview wurde von Melanie Schwaab auf Französisch geführt. Die deutsche Übersetzung finden Sie weiter unten.

 

Interviewerin Melanie SchwaabMelanie Schwaab, geboren 2001 in Frankfurt am Main, ist Studentin des binationalen Studiengangs „Deutsch-Französische Studien: Grenzüberschreitende Kommunikation und Kooperation“ an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken) und der Université de Lorraine (Metz). Gemeinsam mit fünf Kommilitoninnen hat sie das zweisprachige Kinderbuch „Wie das Chamäleon sein Talent gefunden hat“ geschrieben.

 

Die deutsche Übersetzung des Interviews

 

Melanie (M): Hallo! Ich freue mich sehr, heute mit Ihnen über Ihr Jugendbuch Deux fleurs en hiver sprechen zu können, das für den Deutsch-französischen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. In Ihrem Roman lernt man zwei Personen kennen, die beide nach Blumen benannt sind, Capucine und Violette, die sich aber in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen befinden. Auf der einen Seite ist Capucine, ein Mädchen, das bald 18 Jahre wird und in die 12. Klasse geht. Sie hat sich entschlossen, ein Praktikum in einem Altersheim zu machen, in der Hoffnung, so ihren beruflichen Weg zu finden. Eines ihrer Merkmale ist, dass sie Perücken in verschiedenen Farben trägt, je nach ihrer Stimmung. Auf der anderen Seite ist Violette, eine ältere Dame, die am selben Tag ins Altersheim zieht, an dem Capucine ihr Praktikum dort anfängt. Violette ist nicht sehr glücklich, ins Altersheim zu kommen, sie ist traurig, ihr Haus und ihre Katze verlassen zu haben und auch einen Teil ihrer Unabhängigkeit zu verlieren. Sie ist auf Wunsch ihres Sohnes umgezogen, nachdem sie mehrmals gestürzt ist, er macht sich Sorgen um sie. In diesem Heim lernen sich Violette und Capucine kennen. Aus ihrer Begegnung entsteht eine sehr tiefe Freundschaft, die sie dazu bringen wird, sich gegenseitig zu unterstützen und die Herausforderungen der Vergangenheit, mit denen sie beide konfrontiert sind, besser zu bewältigen. Meine erste Frage wäre: Wie sind Sie auf die Idee für den Roman gekommen? Was hat Sie zu der Geschichte inspiriert?

Delphine Pessin (DP): Es waren in der Tat mehrere Dinge, wie es sehr oft der Fall ist, wenn ich schreibe. Es gab nicht nur ein Ereignis, sondern mehrere. Das erste Ereignis, das etwas weiter zurückliegt, ist der Umzug meiner eigenen Großmutter in ein Altersheim, vor etwa zehn Jahren. Sie ist auf eigenen Wunsch in diese Einrichtung gezogen, weil sie sehr viel Unabhängigkeit verloren hatte. Sie verließ aber nicht ihr Haus, um in diese Einrichtung zu ziehen, sie hatte ihr Haus bereits verlassen, um in eine kleinere Wohnung zu ziehen und näher bei ihren Kindern zu sein. Und dann, als es zu kompliziert wurde, den Alltag zu bewältigen, sind sie den Schritt eingegangen und sie ist in diese Einrichtung aufgenommen worden. Ich erinnere mich, dass es mich berührte, sogar traurig machte, könnte ich sagen, denn es warf viele Fragen auf: Ich fragte mich, ob sie an diesem Ort wirklich glücklich sein könnte, da sie alles zurückgelassen hatte. Sie war eine sehr aktive Frau, die einen großen Garten und Tiere hatte, und von einem Tag auf den anderen hatte sie keinen Garten mehr, keine Tiere mehr, nur noch ein 12qm großes Zimmer, das hat mich wirklich stutzig gemacht. Also blieb bei mir dieses Gefühl. Eigentlich sagte sie, dass es ihr an diesem Ort gut ginge, aber es machte mich trotzdem stutzig. Und dann, in jüngerer Zeit, mein Sohn machte damals eine Ausbildung zum Krankenpfleger – heute ist er Krankenpfleger – es war sein erstes Studienjahr. Während des ersten Studienjahrs machen sie viele Praktika. Das Praktikum im Altersheim ist eine obligatorische Station im Laufe der Ausbildung und sein erstes Praktikum war eben in einem Altersheim. Er erzählte uns über seinen Alltag und die Konfrontation mit den Realitäten des Berufs war für ihn ziemlich heftig. Er war sehr jung, 18 Jahre alt, und mit dem altersbedingten körperlichen und geistigen Abbau konfrontiert zu werden, zu beobachten, wie die Körper gewaschen werden, sie selber zu waschen... Wenn man sehr jung ist, ist es wirklich etwas, das in den ersten Tagen fassungslos macht, es war wirklich heftig. Natürlich nahm er sehr schnell Abstand, er lernte auch die technischen Handgriffe der Pflege, und es stellte bald kein Problem mehr für ihn dar. Aber am Anfang war es nicht einfach. Und so dachte ich in diesem Moment, dass es interessant sein könnte, mich in eine Pflegekraft hineinzuversetzen, eine junge Pflegekraft, die diesen Beruf wählt, und zu sehen, wie es für sie ist, welche Emotionen sie fühlen könnte. Eigentlich ist Violette der erste Charakter, der mir in den Sinn gekommen ist, wegen meiner Großmutter, an die ich beim Schreiben des Romans sehr stark gedacht habe. Und auch wenn Violette komplett fiktiv ist und nicht meine Großmutter ist, war sie während des Schreibens immer im Hintergrund präsent. Ich habe mit dem Charakter der alten Dame angefangen und habe wie in einem Tagebuch geschrieben. Ich habe mir gedacht: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich in einer solchen Einrichtung leben müsste? Ich sage das jetzt, weil ich versuche, meine Gründe ein wenig zu hinterfragen, aber zu der Zeit habe ich nur geschrieben, weil ich eine Notwendigkeit gespürt habe, zu diesem Thema zu schreiben. Ich denke, es könnte eine Reflexion über das hohe Alter meiner Eltern gewesen sein, über die Entscheidungen, die wir werden treffen müssen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, allein zu leben, und dann ist es vielleicht auch eine Reflexion über mein eigenes Altern. Es ist wirklich eine Frage, die da in der Luft hing und die ich beantworten musste.

M: Die Handlung ist also von realen Fakten inspiriert, aber Sie haben Ihre eigene Geschichte geschrieben und sich so über all die Themen Gedanken gemacht, die Sie in Ihrem Buch ansprechen. Sie sagten auch, dass die Inspiration für Capucine ein bisschen daher kam, dass Ihr Sohn auch ein Praktikum in einem Altersheim absolviert hat. War es der Moment, wo Sie den Weg fanden, um über das tägliche Leben in einem Altersheim zu berichten? Denn das ist es, was Sie in dem Buch tun. Als Leser erfahren wir mehr über den Alltag der Pfleger und der Bewohner. Haben Sie „recherchiert“, indem Sie mit Ihrem Sohn gesprochen haben, oder wie haben Sie das gemacht?

DP: Also beides, eigentlich. Es begann mit Gesprächen, die ich mit ihm führte, und wenn ich eine technische Frage hatte, wandte ich mich oft an ihn. Wie immer, wenn man eine realistische Geschichte schreibt, versucht man, nichts Dummes zu erzählen und so nah wie möglich an der Realität zu bleiben. Ich habe zu dem Thema recherchiert, und ich habe das Glück, mehrere Pfleger in meinem Umfeld zu haben. Es gab auch ein Mädchen namens Laurine, der ich sehr dankbar bin, weil sie sich wirklich viel Zeit für mich genommen hat. Ich habe sie wirklich vieles gefragt, sie hat mir erklärt, wie ein Tag abläuft. Ich habe versucht, mich an diese Realität zu halten, dank ihrer Erfahrung, was eine Erfahrung direkt aus dem Beruf war. Außerdem war sie gerade am Anfang, es war ihr erstes Jahr in diesem Beruf. Sie hatte ihren Abschluss gemacht, und es war ihr erstes Jahr, so dass sie gerade mit den Schwierigkeiten konfrontiert war, die Capucine entdeckt, nämlich, dass sie immer für zu langsam befunden wurde, dass das Arbeitstempo viel schneller war als das, was man ihnen in der Schule beigebracht hatte. Sie fühlte sich zunächst ein wenig überfordert, hilflos.

M: Ja, das ist mir auch aufgefallen, als ich das Buch gelesen habe, Sie sprechen auch von den Problemen, mit denen Pfleger und Bewohner oft konfrontiert sind: der Personalmangel, der sehr harte Arbeitsrhythmus... An einer Stelle im Buch gibt es sogar eine Pflegerin, die Capucine sagt, dass sie vorrangig jene Patienten waschen muss, die Besuch bekommen, wenn keine Verstärkung kommt. Was denken Sie über die Situation der Pflegekräfte und der Altersheime im Allgemeinen?

DP: Ich möchte sagen, dass dies eine Äußerung ist, die ich gelesen habe, als ich auf Foren im Internet unterwegs war. Es ist etwas, was ich gelesen habe, was ich in das Buch aufgenommen habe, ich habe es nicht erfunden. Vor ein paar Jahren gab es in Frankreich viele Demonstrationen. Pflegekräfte gingen in weißen Kitteln auf die Straße, um gegen ihre Arbeitsbedingungen zu protestieren. Ich glaube, ich wollte schon länger über das Thema Pflegekräfte schreiben, und zunächst nicht unbedingt über die Altersheime im Speziellen. Aber ich wusste, dass ich eines Tages über dieses Thema schreiben würde, denn jeden Tag, wenn ich zur Arbeit ging, kam ich an einer Einrichtung vorbei, an der ein großes Banner hing mit der Aufschrift „erschöpfte Pflegekräfte, keine Gesundheit“. Kurzum, der Hintergrund waren diese schwierigen Arbeitsbedingungen und die Tatsache, dass es schwer ist, mit Menschen zu arbeiten. Das setzt allem die Krone auf. Denn eine menschlichere Arbeit gibt es nicht. Man lässt ihnen nicht die nötige Zeit und oft geraten sie in eine körperliche Erschöpfung. Aber auch in eine psychische Erschöpfung, weil es bedeutet, den Patienten, den Bewohnern Gewalt anzutun, gegen ihren Willen, weil sie eben keine Zeit für irgendetwas haben. Und zu entscheiden, nur diejenigen zu waschen, die Besuch bekommen, das ist eine Aussage, die ich gelesen habe, und die natürlich schockierend sein kann.

M: Ja, es ist wirklich schockierend, dass es von einer wahren Aussage inspiriert ist. Es verdeutlicht umso mehr, dass dies eine gesellschaftliche Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen. Vor allem, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer älter wird, und ich denke, es ist wirklich dringend, sich damit zu befassen, auch aus humanitärer Sicht, denn das sind ja Menschen. Sie können Mitglieder unserer Familie sein, aber im Allgemeinen ist es eine Frage von Solidarität. Und ich finde es umso beeindruckender, dass Capucine sich freiwillig für diesen Beruf entschieden hat. An einer Stelle im Buch sagt sie, dass ihr Vater zunächst nicht sehr glücklich mit ihrer Wahl war, sie es aber trotzdem gemacht hat, weil sie gerne mit älteren Menschen arbeitet. Glauben Sie, dass es vielleicht Stimmen gibt, die dazu beitragen, dass mehr junge Menschen sich in dieser Richtung orientieren? Denn auch in Deutschland gibt es zum Beispiel das Problem, dass es nicht genügend junge Menschen gibt, die bereit sind, Pflegekräfte zu werden.

DP: Ich glaube, in Frankreich ist es auch kompliziert. Was mir auffällt – ich bin ja keine Spezialistin auf dem Gebiet – mein Gefühl ist, dass es oft junge Leute sind, und sehr oft junge Frauen, das muss man sagen, weil es immer noch im Wesentlichen ein weibliches Umfeld ist. Auch wenn es langsam mehr Männer gibt, sind es junge Frauen, die diese Fächer im Allgemeinen wählen (hier das ASSP-Fachabitur für Pflegekräfte, das Capucine gewählt hat), weil sie sich eigentlich um kleine Kinder kümmern wollen. Im Bereich der personenbezogenen Dienstleistung zielen sie also eher auf junge Kinder ab. Sie sind während ihres Studiums verpflichtet, in einer Einrichtung mit älteren Menschen zu arbeiten, und manchmal passiert es – wie bei der jungen Pflegehelferin, die ihre Erfahrung mit mir geteilt hat –, dass sie sich denken: „Eigentlich ist es das, was ich lieber machen möchte“. Aber das ist nicht immer der Fall und ich denke, es ist immer noch schwer, eine solche Entscheidung zu treffen. Ganz einfach, weil es schwierig ist, sich mit 16 Jahren zu sagen: „Ich entscheide mich dafür, mit älteren Menschen zu arbeiten“. Sie sind einfach jung.

M: Vielleicht könnte Ihr Buch junge Leser inspirieren?

DP: Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall finde ich, dass die Arbeitsbedingungen in der Tat hart sind, darüber muss man sich im Klaren sein. Aber es ist auch ein extrem menschlicher und bewundernswerter Beruf, in dem man Menschen in einer entscheidenden Zeit ihres Lebens begleitet. Und wir alle haben Großeltern, wie ich schon sagte. Ich habe viel an meine Großmutter gedacht, also kann man sich auch vorstellen, dass diese Menschen, wie Sie sagten, Menschen aus unserer Familie sein könnten. Man begleitet sie auf dem letzten Weg ihres Lebens und das finde ich eigentlich sehr schön. Aber es ist ein harter Beruf. Deshalb verstehe ich auch Capucines Vater, der auf die Bremse tritt, weil er Angst hat, dass sie diese Schwierigkeiten erleben wird. Er will sie beschützen.

M: Ich finde auch, dass die Freundschaft, die sich zwischen Capucine und Violette entwickelt, sehr gut veranschaulicht, dass es wirklich bereichernd sein kann, einen generationenübergreifenden Dialog zu führen, sie unterstützen sich gegenseitig. Sie haben beide unterschiedliche Perspektiven auf die Dinge, die passieren. Was ist die wichtigste Botschaft, die Ihre Leser von der Lektüre Ihres Romans mitnehmen sollen?

DP: Diese Frage stelle ich mir nicht, wenn ich die Geschichte schreibe. Ich denke nicht: „Ich werde eine Botschaft übermitteln“. Ich versuche einfach, eine Geschichte zu schreiben, die Bestand hat. Man übermittelt aber trotzdem immer Botschaften. Vielleicht lautet die Botschaft, dass Freundschaft doch zeitlos ist. Das wäre die Botschaft: dass Freundschaft zeitlos ist, dass sie kein Alter hat. Ich fühle mich mit meinen Großeltern sehr verbunden. Sie sagten vorhin, dass die Älteren den jungen Leuten, die in dieser Art von Einrichtungen arbeiten, viel bringen und andersrum. Es ist eine Frage des Teilens. Wenn man diesen Beruf wählt, dann weil man Dinge mit anderen Menschen teilen möchte.

M: Das ist eine sehr schöne Botschaft. Herzlichen Dank! Ich denke, Ihr Buch ist auf jeden Fall zu empfehlen, ich hatte eine tolle Zeit beim Lesen. Es gibt unterhaltsame Momente, aber auch ernste Themen, die Sie anpacken. Wir haben gerade darüber gesprochen: die Situation in den Altersheimen, aber auch die Trauerfälle zum Beispiel, die Vergangenheitsbewältigung und das Altern. Ich denke, es macht Spaß, es zu lesen, und es regt auch zum Nachdenken an, sehr empfehlenswert. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns genommen haben! Und ich wünsche Ihnen noch viel Glück für den Preis!

DP: Vielen Dank!

 


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